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Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) im Sommerinterview mit dem serbischen Wochenmagazin Nedeljnik

Bundeskanzler und ÖVP-Parteivorsitzender Karl Nehammer spricht im dreiseitigen Sommerinterview mit dem serbischen Wochenmagazin Nedeljnik über die EU-Integration des Westbalkans, den Krieg in der Ukraine und die 300.000 in Österreich lebenden Serbinnen und Serben

Serbische Version, erschienen in der Printausgabe vom 11.08.2022: Interview, BK Nehammer (Nedeljnik, 11.08.2022)

Deutschsprachige Originalversion:

Nedeljnik: Als Sie mit außergewöhnlichen 100 % der Stimmen zum Parteivorsitzenden gewählt wurden, empfanden Sie das eher als historischen Erfolg für einen Kandidaten, oder hatten Sie das Gefühl, dass sich alle hinter Ihnen verstecken, während Sie, nach den Skandalen und dem Sturz der Regierung Kurz, die Verhältnisse in der ÖVP und der Regierungskoalition wieder ins Lot bringen?

Bundeskanzler Nehammer: Das Ergebnis war für mich ein überwältigender Vertrauensbeweis, welches zugleich große Verantwortung mit sich bringt. Wir leben in sehr herausfordernden Zeiten und diese Regierung war von Beginn an mit Krisen konfrontiert: Cyberattacke auf das Außenministerium, Migrationsdruck an der türkisch-griechischen Grenze, Pandemie, Terroranschlag, Teuerungen und nun verzeichnen wir erneut einen massiven Anstieg der illegalen Migration in die EU. Zudem erleben wir plötzlich einen furchtbaren Krieg in Europa mit all seinen Folgen, wie Knappheit der Gaslieferungen, Stopp der Getreideexporte, und Millionen geflüchteten Menschen aus der Ukraine.

Spüren Sie immer noch die Last der Fehler der vorherigen Regierung?

Ich habe das Amt des Bundeskanzlers vor etwas mehr als einem halben Jahr mit großer Demut angenommen, um tagtäglich für all die Menschen, die in Österreich leben, zu kämpfen. Wir sind vergangenen Krisen bisher immer stärker herausgekommen, als wir davor waren und wir werden auch die jetzigen Krisen meistern.

Sebastian Kurz hatte gute Beziehungen zu den Staatenlenkern des Westbalkans, und Sie haben diese Region (Belgrad, Priština, Sarajevo) bereits nach drei Monaten an der Spitze der Regierung besucht. Was ist das Neue, das Sie nach diesem Besuch über die Beziehungen auf dem Balkan gesehen und gelernt haben?

Diese Reise war mir sehr wichtig, denn Österreich hat eine besondere Verantwortung für und eine große Verbundenheit mit dem Westbalkan. Wir haben zudem auch starke wirtschaftliche Verbindungen, die zehntausende Arbeitsplätze in Österreich sichern. Was ich für mich mitgenommen habe ist, dass diese Länder ein sehr wichtiger Partner nicht nur für Österreich – sondern auch für die Europäische Union sind. Deswegen war es mir auch ein besonderes Anliegen bei der Diskussion um den EU- Erweiterungsprozess den Fokus auch auf den Westbalkan zu setzen und dieser nicht vergessen werden darf. Klar ist auch, dass China und Russland großes Interesse an der Region haben und ihren Einfluss dort stetig ausbauen. Es steht also viel auf dem Spiel, vor allem die Glaubwürdigkeit der EU auf dem Westbalkan.

 

Bei jenem Besuch in Priština und Sarajevo haben Sie gesagt, „es ist wichtig, dass der Kosovo und Bosnien und Herzegowina wissen, dass sie nicht allein sind, wenn es Drohungen gibt, sondern dass sie die Unterstützung Österreichs haben“. Was meinten Sie damit, welche potenziellen Bedrohungen sehen Sie für die Länder des Westbalkans?

Unsere Sicherheit und Stabilität ist unmittelbar mit jener des Westbalkans verbunden. Bereits als Innenminister habe ich die polizeiliche Zusammenarbeit im Bereich der organisierten Kriminalität und Schleppereibekämpfung gefördert und unterstützt – denn diese Zusammenarbeit ist ein Sicherheitsthema für uns alle. Gerade jetzt, wenn die illegale Migration nach Europa stark zunimmt, müssen wir gemeinsam entschlossen gegen das skrupellose Geschäft der Schlepperei und des Menschenhandels vorgehen. Die Entscheidung, wer nach Europa kommt, muss bei den Staaten liegen und nicht bei den Schleppern.

 

Sie haben den schnelleren EU-Beitritt des Westbalkans unterstützt, aber es fällt auf, dass die Euro-Begeisterung in diesem Bereich abnimmt, weil der Prozess zu lange dauert. Ist daran auch die Brüsseler Verwaltung schuld, und was ist konkret zu tun, um den Prozess zu beschleunigen?

Klar ist, dass der Beitrittsprozess mühsam ist und sehr lange dauert. Wir sollten daher darüber nachdenken, wie wir ihn so gestalten können, dass er effizienter, für die Bevölkerung in den Kandidatenländern greifbarer wird und die schrittweise Heranführung der Beitrittswerber an die Vollmitgliedschaft besser unterstützt.

Aus diesem Grund haben wir auch auf Europäischer Ebene einen konkreten Vorschlag vorgelegt, wie wir Zwischenschritte etablieren können – beispielsweise im Sinne eines Europäischen Vorbereitungsraumes. Dieser Vorbereitungsraum soll kein Ersatz zum Beitrittsprozess sein, sondern parallel dazu verlaufen und eine Annäherung an EU- Standards erleichtern. Beispielsweise sollen Beitrittswerber nach und nach in EU- Politikbereiche integriert werden, die für sie von besonderem Nutzen sein können. Es ist wichtig, dass wir das Tempo erhöhen, weil auch andere Global Player großes Interesse an der Region haben. Ich denke da beispielsweise an China oder Russland, die beide ihren Einfluss in der Region massiv ausgebaut haben, während die EU über Formalitäten diskutiert hat.

 

Eine der Folgen des Krieges in der Ukraine ist die hohe Inflation in praktisch ganz Europa. Als Reaktion auf steigende Preise, haben Sie ein Maßnahmenpaket aufgelegt, für welches Modell haben Sie sich entschieden und würden Sie anderen Ländern im Kampf gegen die Wirtschaftskrise einen Rat geben?

Die Inflation war bereits vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine da. Richtig ist: Der Krieg und die daraus resultierenden Unsicherheiten und Verknappungen auf den globalen Rohstoff- und Energiemärkten hat die Teuerung weiter angetrieben. Die Bundesregierung hat sich in Absprache mit Expertinnen und Experten für einen Weg entschieden, der drei Ziele hat: Erstens, jenen Menschen mit niedrigem Einkommen, die besonders von der Teuerung belastet sind, rasch unter die Arme zu greifen. Darunter fallen beispielsweise Pensionisten oder Arbeitslose. Diesen helfen wir mit Einmalzahlungen. Zweitens haben wir mit Steuer-Entlastungen dafür gesorgt, dass die breite Bevölkerung entlastet wird. Das betrifft vor allem Familien. Und drittens haben wir dafür gesorgt, dass unsere Unternehmen auch weiterhin wirtschaften können, indem auch hier Erleichterungen, beispielsweise bei den Energiekosten geschaffen und die Lohnnebenkosten gesenkt haben. In Summe haben wir bereits 32 Mrd. Euro im Kampf gegen die Teuerung investiert. Für Österreich war dieser Weg der Beste, andere Länder haben möglicherweise andere Rahmenbedingungen, die zu berücksichtigen sind. Daher möchte ich hier auch keine Ratschläge verteilen.

 

Wie beeinflusst die Neutralität Österreichs, die historisch ein Erbe des Kalten Krieges, aber auch Teil der zeitgenössischen Identität des Staates ist, die Position Ihres Landes unter den neuen Umständen, die durch den Krieg in der Ukraine verursacht wurden, den viele als Auftakt zu einem zweiten Kalten Krieg sehen?

Österreich ist neutral und bleibt ein neutrales Land. Neutralität bedeutet jedoch nicht, dass man keine Meinung hat. Im April habe ich mir selbst ein Bild von der Situation in der Ukraine gemacht und ich verurteile den russischen Angriffskrieg und die daraus resultierenden Menschenrechtsverletzungen entschieden. Wir sind zwar militärisch neutral, aber nicht, wenn es darum geht, Verbrechen zu benennen und hinzuschauen, wo tatsächlich Unrecht passiert.

 

Gehören Sie zu Gruppe derer, die glauben, dass Putin durch den Angriff auf die Ukraine die Europäische Union geeint und das Leben der Union verlängert hat? Wie sehen Sie die Perspektiven der Europäischen Union als Organisation unter den neuen Umständen?

Der Krieg hat eines gezeigt: es ist wichtiger denn je Geschlossenheit zu zeigen. Jedoch muss hier auch klar die EU in die Gänge kommen, denn es gibt viele Ankündigungen von der EU-Kommission, aber nur wenige Umsetzungen

Zudem müssen Sanktionen denjenigen mehr treffen, gegen den sie gerichtet sind, aber nicht dem mehr schaden, der sie beschließt. Deshalb steht für mich auch ein Gasembargo nicht zur Debatte.

 

Wie Sie wahrscheinlich wissen, hat sich auch Serbien militärisch Neutral erklärt. Können Sie die österreichische und die serbische Neutralität vergleichen, gibt es Ähnlichkeiten?

Die österreichische Neutralität ist historisch gewachsen. Sie war eine Bedingung der Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg und ist auch der Grund dafür, dass uns nach dem Krieg nicht dasselbe Schicksal wie dem jahrzehntelang in West und Ost gespaltenen Deutschland zuteilgeworden ist. Die Österreicherinnen und Österreicher stehen heute noch hinter der Neutralität. Für mich steht fest: Jedes Land weiß selbst am besten, welche Sicherheits- und Verteidigungspolitik für sich die beste ist.

 

Wenn Sie in den vergangenen Jahren die Spiele der österreichischen Fußball- Nationalmannschaft gesehen haben, waren Sie wahrscheinlich in einer Situation, in der Sie Spieler wie Arnautović oder Dragović angefeuert haben. Was ist Ihre erste Verbindung mit der serbischen Community in Österreich, wenn es nicht Fußball ist?

Österreich hat eine sehr große Diaspora von rund 300.000 Serbinnen und Serben. Wenn ich an die serbische Community denke, dann denke ich an ihren Fleiß, Ehrgeiz aber auch an Ihre Gastfreundschaft und Warmherzigkeit. Zudem habe ich auch während meiner Amtszeit als Innenminister eine Freundschaft zu meinem damaligen Amtskollegen Aleksandar Vulin aufgebaut.

 

Und wenn wir über Fußball sprechen, gibt es ein interessantes Phänomen bei Fußballspielern serbischer Herkunft aus anderen Ländern, zB. die schweizerischen Serben entscheiden sich am häufigsten für Serbien zu spielen, während die österreichischen Serben eher für Österreich spielen. Vielleicht sagt das etwas über die Inklusion der Serben in der österreichischen Gesellschaft aus?

Integration verschiedenster Nationalitäten mit unterschiedlichsten Wertehaltungen und Weltanschauungen bringt sehr viele Herausforderungen mit sich. Allerdings gilt in Österreich klar der Grundsatz Integration durch Leistung. Ich habe zahlreiche Serbinnen und Serben bis jetzt kennengelernt, welche sich durch harte Arbeit und den Willen zur Integration in Österreich etwas aufgebaut haben – und denen gilt mein größter Respekt. Dass sich so viele österreichische Fußballspieler serbischer Herkunft dafür entscheiden, für Österreich zu spielen, freut mich und macht mich als Bundeskanzler stolz.

*Ende*

 

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